Horizonte

Juli 2024


Da bin nur ich, das Schiff und die Karibik. 

So ganz stimmte das nicht. Kapitän Rudi vögelte übereinstimmenden Vermutungen nach gerade mit seiner Köchin und der Rest unserer Reisegruppe feierte unseren letzten gemeinsamen Abend an den Deck der Alessandra im Hafen von Sapzurro. 

Dennoch fühlte es sich so an, als ich mich für einen Moment alleine am Bug des Schiffes wiederfand und zurückdachte. Es war Nacht in Sapzurro und über dem kleinen panamaischen Küstenort an der Grenze zu Kolumbien lag ein klarer Sternenhimmel. 

Fünf Tage waren wir auf einem alten Segelboot von Panama nach Kolumbien durch die Karibik gesegelt. Wir sahen die Sonnenuntergänge auf den San Blas Inseln, ernährten uns von Meeresfrüchten, schwammen mit Haien und sorgten als Gruppe dafür, dass innerhalb dieses großen Abenteuers viele schöne Momente in Erinnerung bleiben würden. 

Zugleich war es nun das letzte Abenteuer meiner Reise gewesen, die mich 8 1/2 Monate um die Welt trieb. Es war eine Mischung aus Wehmut und Freude, die ich bei dem Gedanken fühlte, dass ich in weniger als drei Tagen wieder in Deutschland sein werde. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass es nie mehr so werden würde, wie es einmal war. 

 

Danach

Heute sitze ich wieder an dem Ort, an dem ich mich an dem Abend befand, bevor ich vor knapp zwei Jahren losgezogen war. So, wie ich damals darüber nachdachte, was wohl alles auf mich zukommen würde, so denke ich heute darüber nach, was seitdem alles passiert ist. Ich wusste damals zwar, dass die Ungewissheit meines Reisestils in alle Richtungen ausgehen könnte. Doch ich ahnte nicht, wie sehr die Reise mein Leben generell verändern wird.

 

Zu unterscheiden bei einem heutigen Rückblick sind dabei die Abenteuer, die mir die Reise brachte und das, was sie mit mir gemacht hat. 

Ich war auf einer verrückten Tour mit Lokalbussen und kleinen Fähren in Chile bis nach Patagonien gereist, sah dort die überwältigende Natur von Torres del Paine, dem Fitz Roy und dem Gletscher Perito Moreno.

Ich erlebte die einzigartige WM-Atmosphäre in Argentinien, als sich ein Land in den Armen lag. Auf einem zweiwöchigen, aufregenden Roadtrip entdeckte ich die Vielseitigkeit Uruguays.

In einem Jeep fuhr ich durch die Atacamawüste sowie die Salzwüste von Uyuni. Ich wanderte über den Salkantay-Trek zu den Ruinen von Macchu Picchu, ging in der ecuadorianischen Küstanstadt Montanita surfen. Ich sah den wohl schönsten Sonnenuntergang meines Lebens in Mancora an der Küste Perus, als sich der gesamte Himmel über dem Pazifik in verschiedenen Rottönen färbte. In Panama wanderte ich um Mitternacht einen Vulkan herauf und hatte bei Sonnenaufgang vom Gipfel aus zugleich einen Blick auf den Pazifik und die Karibik. Zweifelsfrei waren es unglaubliche Abenteuer gewesen, die ich erleben durfte. 

 

Wirklich prägend aber waren nicht alleine die Abenteuer als solche und das, was ich von der Welt gesehen hatte. Vielmehr war es das Leben, das ich während der Zeit lebte. 

Meine Reise war kein Urlaub, für den es einen festen Zeitraum und einen Plan gab. 

Sie war das Ergebnis aus einem Versuch, ohne festgelegtes Ziel, auf unbestimmte Zeit in die Welt hinaus zu ziehen und dabei jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt. 

Die Ungewissheit, wo ich in einer Woche oder vielleicht auch am nächsten Tag sein werde, wurde zu einem entscheidenden Faktor für alles, was passierte. Ebenso verhielt es sich mit der Entscheidung, alleine loszuziehen. 8 1/2 Monate konnte ich jeden Tag tun, was immer ich wollte. Ich hatte keine Termine, keine Pflichten. Und da ich mich auf nichts festgelegt hatte, erlebte ich jeden Tag unerwartete Dinge. So entstand auch jede einzelne meiner Begegnungen mit anderen Reisenden auf der Basis meines Reisestils. Ich lernte tolle Menschen aus aller Welt kennen,  mit denen ich Erlebnisse teilen konnte und die mir immer wieder neue Perspektiven auf das Leben zeigten.

Alle Entscheidungen, die ich auf meinem Weg traf, waren dabei das Ergebnis meiner Intuition. Rückblickend entstand bereits die Entscheidung, auf Reisen zu gehen, auf Basis jener Intuition und ich hatte sie nicht nach Argumenten getroffen. 

 

Wie sehr mich diese Art zu leben veränderte, realisierte ich erst nach meiner Rückkehr. Bei aller Freude, wieder zu Hause zu sein, war es ein harter Aufprall und es sollten noch härtere Monate folgen. Die Umstellung auf einen  festen Alltag an einem festen Ort, die Erwartungshaltung an mich selbst, in meinem Umfeld wieder der zu sein, der ich vor meiner meiner Reise war. Ganz zu schweigen von dem Downgrade der Natur, die ich hier vorfand. Es war wie ein langanhaltender Kampf, sich in die Strukturen meines Lebens zurückzufinden und ich begann zu realisieren, dass ich ihn längst verloren hatte. 

Dabei war es nicht so, dass mir mein Leben hier nicht mehr gefiel. Ich freute mich, meinem Job als Aushilfslehrer und all den Dingen, die mir während der Reise fehlten, wie dem Fußball, mit Leidenschaft wieder nachgehen zu können und war froh, nach all der Zeit meine Familie und mein Umfeld wieder um mich herum zu haben. Ganz zu schweigen davon, wie sehr ich nach der Rückkehr aus Südamerika wertzuschätzen wusste, was für ein Privileg es ist, hier in Deutschland leben zu dürfen. 

 

Nur spürte ich gleichzeitig, dass die Freiheit, die ich auf meiner Reise hatte, in ihrer Gänze nicht mehr existierte. Stattdessen fühlte sich hier alles eingeengt an. Der Horizont, der für mich 8 1/2 Monate lang die weite Welt war, waren nun wieder die Tore Hamburgs. 

Es brauchte einige Zeit, in der ich es nicht schaffte, damit in Einklang zu kommen, bis ich realisierte, dass es gar nicht für immer so bleiben muss. Ich spürte mehr und mehr, wie sehr ich innerlich nach Veränderungen strebte und entschied mich, diesem Drang nachzukommen. 

Zunächst waren es kleine Veränderungen gewesen. Kurzausflüge zu umliegenden Orten, Café-Besuche, die in Südamerika zu meiner Tagesroutine gehörten, spontane Roadtrips. Ich begann, meine Freizeit mit Spontanität und mit Dingen zu füllen, die mir ein Stück weit das Gefühl zurückbrachten, das ich auf Reisen hatte und hier im Alltag vermisste. 

Ich stellte meine mentale Gesundheit in den Mittelpunkt meines Lebens und entschied mich, nur noch Dingen nachzugehen, die mir wirklich etwas bedeuten oder die mir dabei halfen, etwas zu erreichen, was mir etwas bedeutet. Ich hatte mir geschworen, nichts mehr in meinem Leben zu tun, in dem ich keinen klaren Sinn sehe.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Bücher wie „Das Café am Rande der Welt“ lesen würde. Heute nun haben vor allem John Straleckys Geschichten einen Anteil daran, wie sich meine Sicht auf das Leben veränderte. In einem langen Prozess begann somit nach meiner eigentlichen Reise und zugleich durch sie angestoßen eine Reise zu mir selbst, auf der ich mich nicht zuletzt damit auseinandersetzte, was die nächsten Schritte in meinem Leben sein sollten. 

Intuition

Als ich 20 war, hatte ich eine bestimmte Vision für das Leben. Sie entsprach in etwa dem, was auch der gesellschaftlichen Norm entspricht. In ein paar Jahren mit Ende 20 würde ich einen festen Job haben, eine Partnerschaft führen und vor den Schritten einer Familienplanung stehen. Ich hätte vielleicht noch eine Wohnung, schon bald aber ein Haus mit einem kleinen Garten, am besten im Umland von Hamburg.

 

Heute bin ich 27,  glücklicher Single, Langzeitstudent und habe keine Ahnung, wo auf der Welt ich eines Tages leben werde. 

Ich lebe dabei im Bewusstsein und zugleich im Einklang damit, für meine Zukunft noch keinen festen Plan zu haben. Für mich ist es aktuell nur entscheidend, mir die Dinge zu erfüllen, die ich wirklich erleben möchte und und nach denen ich strebe. In erster Linie bedeutet dies, mich nicht damit zufrieden zu geben, dass die Abenteuer, die ich auf meiner Reise erlebte, die letzten gewesen sind. Ich möchte in den kommenden Jahren möglichst viel erleben, die Welt sehen, im Ausland arbeiten, mal hier und mal dort leben. Mich dabei neuen Herausforderungen stellen, an ihnen wachsen und bin offen für alles, was kommt. 

Ich möchte meine Reise nicht länger und größer machen, als sie war. Ich traf Menschen, die ihr ganzes Leben auf Tour sind. Und was sind schon 8 1/2 Monate betrachtet auf ein ganzes Leben. Doch sie hatten gereicht, meines zu verändern. Die Erfahrungen meiner Reise machten aus einem Menschen, der stets innerhalb seiner Komfortzone und nach Gewohnheiten lebte, jenen, der sich gerne freischwimmt und mehr vom Leben will. Und dafür zahle ich gerne den Preis der Ungewissheit. Denn ihr habe ich alles zu verdanken, was passiert ist. 

 

„It´s better going the right way slowly than getting just somewhere fast“  singt Sunrise Avenue in ihrem Lied „Flag“, das ich während meiner Reise häufig hörte. Und richtig ist nur das, was sich für mich richtig anfühlt. Das hatte ich auf meiner Reise gelernt. 

Ich hatte gelernt, dass das Leben, das ich führe, nicht automatisch das sein muss, das ich in Zukunft führen werde. Dass sich Dinge ändern. Und, dass ich gut beraten bin, bei den großen und kleinen Fragen des Lebens meiner Intuition zu vertrauen.