Die unglaublichen Erlebnisse auf Argentiniens Weg zur Weltmeisterschaft

Zeitraum: 30.11. 22 - 21.12.22
Ich hatte den Jubel gefilmt. Das wirklich Bewegende aber geschah nach jenem Jubel, der Argentiniens spielentscheidendem Elfmeter galt, welcher den Sieg der Weltmeisterschaft bedeutete. Die Menschen um mich herum fingen an zu weinen, lagen sich minutenlang in den Armen oder vereinzelt einfach auf dem Boden. Es war der Moment, als ich endgültig realisierte, was für eine Bedeutung der WM-Sieg für die Menschen hier hatte.
Als ich einen Monat zuvor entschied, nach Argentinien zu gehen, spielte auch die WM-Atmosphäre eine Rolle, die ich unbedingt erleben wollte. An dem Tag, als ich mein Busticket nach Ushuaia buchte, verlor Argentinien sein Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien und ich hatte Sorge, dass sie am Ende ausgeschieden sind, noch bevor ich die Atmosphäre überhaupt erleben durfte.
Es sollte alles anders kommen.
Das erste Spiel, das ich unter Argentiniern verfolgte, war der 2-0- Sieg im dritten Gruppenspiel über Polen, der den Weg ins Achtelfinale ebnete. In Ushuaia dufte ich ein erstes Gefühl dafür bekommen, wie sehr der Fußball hier gelebt wird und welchen Stellenwert die WM im Alltag der Menschen hat. Die Hälfte aller Restaurants war überfüllt und die andere Hälfte geschlossen. Die Straßen Ushuaias glichen einer Geisterstadt. Bis auf einige Supermärkte waren alle Geschäfte für die Zeit des Spiels geschlossen. Und in jenen Supermärkten, die geöffnet blieben, verfolgten die Kassierer das Spiel in einem Argentinien-Trikot auf einem Bildschirm. Doch auch ohne das Spiel zu sehen, konnte man die Emotionen aus den Häusern und Lokalitäten wahrnehmen. Der lauteste Support kam aus einer Schule, in der das Spiel per Leinwand in der Sporthalle übertragen wurde.
Ich fand letztlich einen letzten Platz in einer Pizzeria und sah die Tore von Alexis Mac Allister und Julian Alvarez aus einem sehr spitzen Winkel auf den Fernseher. Im Anschluss an das Spiel feierte ganz Ushuaia den Sieg auf den Straßen. Ich wurde das erste Mal Zeuge des Hupkonzerts, welches hier im Falle eines Sieges üblich ist. Wer hier ein Auto hat, der stieg nach Abpfiff in seines und fuhr einfach hupend umher. Bis irgendwann auf allen Straßen Stau war und nichts mehr ging.
Die folgenden beiden Spiele, den Sieg im Achtelfinale über Australien und jenen im Viertelfinale über die Niederlande verfolgte ich in den kleineren Orten El Calafate und Perito Moreno.
Dafür hatten diese Spiele eine große Wirkung. Mit den überzeugenden Siegen und dem Einzug ins Halbfinale entstand aus den mittlerweile jahrzehntelang anhaltenden Träumen ein echter Glaube, in diesem Jahr den Titel vielleicht tatsächlich holen zu können.
Das katastrophale erste Spiel gegen Saudi-Arabien schien der Mannschaft von Argentinien eine Lehre gewesen zu sein.
Und in den folgenden Spielen steigerten sie nicht nur stetig ihre Leistung, sondern es war erkennbar, wie sie mehr und mehr zu einer Einheit zusammenwuchsen, die sich auf eines eingeschworen hatte: Den Sieg der Weltmeisterschaft 2022. Zugleich brachten die Siege eine Überzeugung in ihr Spiel, die den Glauben an das große Ziel stetig wuchsen ließ. Und dieser Glaube übertrug sich auf die Menschen und war fortan in Argentinien zu spüren.
Im Halbfinale wartete Kroatien. Das Team um Routinier Luka Modric war neben Marokkos Viertelfinaleinzug die große WM-Überraschung. Mit gerade einmal 4 Millionen Einwohnern und ohne eine von Weltstars gespickte Mannschaft schafften sie es das zweite Mal infolge, bei einer Weltmeisterschaft ins Halbfinale einzuziehen.
Man hatte großen Respekt vor Kroatien und doch waren die Vorzeichen übereinstimmender Weise klar: Im Normalfall würden sie diese Mannschaft schlagen.
In San Carlos de Bariloche schaute ich das Spiel zusammen mit Joaquin, einem Argentinier aus Buenos Aires. Die Stadtverwaltung hatte es versäumt, für dieses Spiel die große Linewand auf dem Centro Civico, dem großen Marktplatz und Herzstück Bariloches, aufzubauen. Man war in einigen Bereichen Argentiniens wohl noch etwas zu sehr überrascht über den Halbfinaleinzug, und so schauten wir das Spiel stattdessen in einem völlig überfüllten Restaurant.
Messi traf, Alvarez legte zum 2-0 nach und machte später nach überragender Vorarbeit Messis mit dem 3-0 alles klar. Ausgerechnet im Halbfinale fuhr das Team von Trainer Lionel Scaloni den klarsten all seiner Siege bei dieser WM ein und erreichte somit das Finale von Katar.
Die Feier auf dem Centro Civico, war die bis dato verrückteste von allen. Die gesamte Stadt versammelte sich und bildete einen Knäul und die Menschen rasteten komplett aus. Die fünf, sechs emotionalen Fangesänge, die der Nationalmannschaft gelten, wechselten sich pausenlos ab und sorgten für eine überragende Stimmung. Nach 3 Stunden inmitten der feiernden Menschenmenge verließen wir den Centro Civico.
Als ich am späten Abend nochmal in die Stadt ging, um etwas zu essen zu holen, feierte der harte Kern von etwa 100 Argentiniern noch immer an selber Stelle, noch immer mit den selben Fangesängen, noch immer so ausgelassen, wie seit Beginn der Feier, seit dem Abpfiff des Spiels vor rund 7 Stunden.
Der Einzug Argentiniens in Finale war für mich gleichbedeutend mit dem Entschluss, so schnell wie möglich nach Buenos Aires zu gelangen. Ich wäre gerne noch ein paar Tage länger in Bariloche geblieben, es gefiel mir hier. Mit rund 140.000 Einwohnern liegt Bariloche in sehr idyllischer Lage in einem Tal der südlichen Anden am Ufer des Sees Nahuel Huepi, der zu den größten Seen des Landes gehört.
Aber ich wollte es mir nicht nehmen lassen, das Finale, das Fußballspiel mit dem größten Wert weltweit, in Buenos Aires zu sehen. Der Hauptstadt und mit seinen knapp 6 Millionen Einwohnern zugleich größten Stadt Argentiniens. Und so saß ich einen Tag später in einem 22 Stunden - Bus nach Buenos Aires.
Finale: Argentinien - Frankreich
Als ich in Buenos Aires ankam, musste ich mich an zwei Dinge erst noch gewöhnen. Das erste war die Temperatur. In Bariloche war es zwar bereits etwas wärmer aber im Vergleich zu der Durchschnittstemperatur, die ich während meines Aufenthaltes in Patagonien hatte, war es in Buenos Aires nun um rund 20 Grad wärmer und so betrug die Temperatur bei meiner Ankunft satte 33 Grad. Das zweite war die Größenordnung. Ich kannte sie zwar bereits aus Santiago, aber da ich mich in der Zwischenzeit eher in idyllischen, kleineren Orten aufgehalten hatte, bedeutete Buenos Aires eine gewaltige Umstellung.
Als der Bus die Stadtgrenze erreichte, packte ich hektisch meine Sachen zusammen in Erwartung, dass wir demnächst am Busterminal ankamen. Von der Stadtgrenze an dauerte es letztlich weitere zwei Stunden, ehe wir das Terminal erreichten.
In Buenos Aires traf ich Roy wieder. Es war nicht von vornherein geplant, aber das Schicksal und der Finaleinzug Argentiniens führten uns hier wieder zusammen.
Am Finaltag machten wir uns gemeinsam auf dem Weg in den Stadtteil Palermo, wo das Spiel in Form eines großen Public Viewings übertragen wurde. Auf dem Weg schloss sich uns ein Deutscher an. Phillip war eigentlich in Chile unterwegs und ausschließlich fürs das Finale nach Buenos Aires geflogen. Der Weg nach Palermo wurde gleich mal zu einer Herausforderung, denn die Subway- Stationen rund um den Obelisk, das Wahrzeichen von Buenos Aires, wurden aufgrund des Andrangs geschlossen. Ebenso wurde der Busverkehr eingestellt, da die Millionen an Menschen die Straßen teilweise unbefahrbar machten. Wir fanden letztlich eine geöffnete Subway- Station und die Fahrt erinnerte dann an einen Sonderzug, wie man ihn als Fußballfan in Deutschland von Auswärtsspielen kennt.
Es war spürbar, wie sich in Buenos Aires an diesem Tag das gesamte Leben nur um Fußball drehte. Es gab wenige Ausnahmen an Menschen, die kein Trikot anhatten. „Messi“ lief millionenfach durch die Straßen. Der siebenfache Weltfußballer war die Ikone, der große Hoffnungsträger aller Argentinier. Der, dem es auch außerhalb Argentiniens die gesamte Fußballwelt so sehr gönnte, den in seiner Vita noch fehlenden WM-Titel bei seiner letzten WM zu gewinnen.
Auf dem Plaza Mayour Seeber in Palermo drängten sich tausende Menschen. Es war eine brüllende Hitze und die wenigen Schattenplätze unter den Bäumen waren schnell weg. Während aus diesem Grund Wasserspender bereitgestellt wurden, war Alkohol gänzlich verboten. Durch die Zäune verkauften Menschen privat Bier für horrende Preise und um für die beste Fußballatmosphäre zu sorgen, schlugen wir bei einem dieser Angebote zu.
Das Spiel begann und die Spannung war jedem einzelnen um uns herum im Gesicht abzulesen. Die Tore von Messi und Di Maria zur 2-0 Pausenführung lösten eine unglaubliche Jubelarie aus und man war sich sicher, das würde sich Argentinien nicht mehr nehmen lassen. Zu überzeugend war der Auftritt in den ersten 45 Minuten gewesen, zu harmlos und schwach waren an diesem Tag die Franzosen.
Doch zugleich blieb die Gewissheit, dass die Mannschaft von Trainer Diedier Deschamps um Weltstar Kilian Mbappé mit ihrer individuellen Qualität immer zurückschlagen kann.
Jener Mbappé sorgte schließlich mit seinem Doppelschlag für Entsetzen. Der Ausgleich ließ die Stimmung kippen und aus der Euphorie des bisherigen Spiels wurde schlagartig eine Angst, man könne dieses Spiel noch verlieren. Denn die Franzosen hatten nun Oberwasser und wurde gefährlicher.
Doch zur Verlängerung konnte sich die Elf von Argentinien wieder fangen, der Schock des Ausgleichs schien verdaut und man gewann wieder an Spielkontrolle. Als Messi in der 109. Spielminute zum 3-2 traf, war auf dem Plaza Major Seeber Extase. Wieder glaubten alle „das muss es doch jetzt gewesen sein“. Und ein weiteres Mal verwandelte sich die Extase schlagartig in Stille. Gonzalo Montiel blockte einen Schuss mit der Hand und wir ahnten schon, noch bevor der Schiedsrichter pfiff, das würde Elfmeter geben und den würde sich Mbappé natürlich nicht nehmen lassen.
Und so bekam dieses spektakuläre Spiel sein Ende in Form der höchstmöglichen Dramaturgie eines Fußballspiels im Elfmeterschießen. Während es für die Menschen beim Public Viewing kaum auszuhalten war, selbst für uns nicht, bewiesen die argentinischen Schützen Nerven wie Drahtseile und trafen allesamt vom Punkt. Nachdem Martinez einen Elfmeter hielt und der Franzose Tchouameni einen weiteren neben das Tor schoss, war klar, dass der nächste Elfmeter den WM-Sieg bringen kann. Ich sah den Argentinier Montiel anlaufen und hatte selbst vielleicht einen Puls von 170. Er traf.
Und dann passierte das, was ich eingangs andeutete.
Ein Tor schafft, was Menschen so gerne könnten: Alles auf einen Schlag zu verändern. In einem Land, das von der größten Inflationsrate weltweit betroffen ist, gab es für die Menschen wieder etwas
zu feiern. Ein Land, das politisch gespalten ist, wurde vereint. Argentinien, ihr Heimatland, auf das die Menschen derartig stolz sind, hat es auf den Thron der weltweit populärsten Sportart
geschafft.
Ein sichtbar aufgelöster Argentinier fiel mir um den Hals und es spielte keine Rolle, dass ich sehr unverkennbar kein Argentinier bin. Wir gratulierten so vielen Menschen, wie wir konnten.
Im Anschluss an die Pokalübergabe folgte ein Fanmarsch zum Obelisk, um den sich Millionen von Menschen herum versammelten. Als wir dem Obelisk näher kamen, merkten wir schon, dass wir ihn nicht erreichen würden. Zu dicht war die Menschenmenge bereits gewesen. Auf den Dächern der Bushaltestellen, auf Straßenlaternen und Ampeln, überall waren Menschen. Es war Wahnsinn.
Wir entschieden uns, zum Hostel zurückzukehren, da es nirgends Toiletten gab und suchten im Anschluss für rund 1 1/2h nach etwas zu Essen. In Buenos Aires, der größten Stadt Argentiniens, waren an diesem Tag alle Restaurants geschlossen. Dies war vielleicht mit das größte Zeichen für den Stellenwert des WM-Sieges. Die Besitzer der Restaurants hätten heute mit Sicherheit das Geschäft ihres Lebens gemacht. Sie verzichteten darauf, um den WM-Sieg feiern zu können.
Wir fanden unser Abendessen schließlich bei einem Mann, der privat auf der Straße grillte und Würstchen verkaufte. Im Nachthimmel über Buenos Aires funkelten Raketen. Die Feier ging bis spät in die Nacht hinein und war als Ereignis unvergleichbar.
Nationalfeiertag
Zwei Tage nach dem Finale ging der Wahnsinn von vorne los. Für den Dienstag wurde von der Regierung ein Nationalfeiertag ausgerufen, um den WM-Sieg noch einmal gebührend und geplant feiern zu können.
Das mit dem Feiern hat geklappt, die Planung leider nicht und so wurde dem Tag so einiges genommen.
Die Nationalmannschaft wurde an diesem Tag am Obelisk erwartet. Es war völlig unklar, wann sie kommen würde. Phillip und ich hatten sowieso keine Ahnung, aber selbst Stefano konnte nicht weiterhelfen. Wir lernten ihn im Hostel kennen, er war Argentinier aus dem Umfeld von Buenos Aires und hatte alle Updates der Informationen, die bekannt waren, parat.
Doch auch die halfen nicht weiter.
Es war im Grunde gleich morgens absehbar, dass der Bus mit der Mannschaft an Bord es niemals bis zum Obelisk schaffen würde. Zu dicht war das Gedränge auf den Straßen, auf denen an diesem Tag rund 5 Millionen Menschen unterwegs waren. Immer wieder gab es Spekulationen, dass der Bus seine Route geändert hatte, doch die ganze Wahrheit war recht simpel: Er schaffte es nicht einmal in die Stadt herein. Als wir in einem Restaurant das argentinische Fernsehen verfolgten, erfuhren wir, dass die Zeremonie abgebrochen wurde. Es wurden Bilder gezeigt, wie Menschen versucht haben, sich von Brücken auf den Bus zu stürzen. Die Weiterfahrt schien unverantwortlich und so wurde die Mannschaft per Hubschrauber von der Straße evakuiert. Das große Ereignis, die Mannschaft am Obelisk anzutreffen, blieb also aus. Der Grund darin lag in einer unglaublichen Fehlplanung. Nach dem Finaltag wusste man, dass erhebliche Vorkehrungen getroffen werden müssen, um den Bus durch die Straßen befördern zu können. Diese Vorkehrungen blieben gänzlich aus und so war es letztlich wenig überraschend. Somit endete der Tag leider auch mit Ausschreitungen rund um den Obelisk. Die Polizei versuchte mit Gewalt die Menschen von den Ampeln und Dächern der Bushaltestellen runterzuholen.
Die Menschen, deren großer Wunsch, die Mannschaft hier sehen zu können, nicht erfüllt wurde, waren gereizt und es kam zu Auseinandersetzungen. Ich erlebte es live auf den Straßen mit, wie die Polizei mit Glasflaschen und Feuerwerkskörpern beworfen wurde und letztlich mit einem Großaufgebot und Platzpatronen die Situation bereinigen konnte.
Aber das war nur das Ende des Nationalfeiertags, der ansonsten mit Worten schwer zu beschreiben ist. An diesem Tag gab es keine politischen Streitigkeiten, keine finanziellen Probleme. An diesem Tag wurde zwischen niemandem unterschieden. Es gab keine Gesellschaftsschichten, es waren einfach alle Argentinier, es waren alle Weltmeister.