Zeitraum: 3.12.22 - 15.12.22
Es war ein Tollhaus. Dabei wollte ich lediglich einen Bus buchen.
Mein nächstes Ziel hieß El Calafate, im Westen Argentiniens nahe der Grenze zu Chile gelegen, besonders bekannt für den Gletscher Perito Moreno. Als ich das Büro der Bus- Gesellschaft Marga Taqsa betrat, überkam mich der Schlag. Ca. 25 Leute waren in dem kleinen Raum und es war vor allem ihre Lautstärke, die die 1 1/2h Warten nur schwer erträglich machten. Durch Gespräche erfuhr ich, dass sich das Tollhaus aus mehreren Kleingruppen zusammensetzte, die allesamt aus Israel kamen. Schon in meinem Hostelzimmer teilte ich seit dem Vortag mein Zimmer ausschließlich mit Israelis. „We have to say sorry, people from Israel are always loud“, erklärten sie mir, als ich am Abend ins Hostel-Zimmer zurückkehrte.
Sechs Stunden später, um 3:30 Uhr nachts, startete der Bus aus Ushuaia in Richtung El Calafate. Wesentlich lästiger als die Uhrzeit waren die Widrigkeiten auf dem Weg. Erstens: Startet man aus dem argentinischen Ushuaia nach El Calafate mit dem Bus, bedeutet dies eine Durchquerung von chilenischem Gebiet. Was wiederum bedeutete, dass sich alle Insassen des Busses zunächst aus Argentinien abmelden und in Chile anmelden mussten. Nur damit wir uns rund zwei Stunden später aus Chile abmelden und erneut für Argentinien anmelden mussten. Da Chile und Argentinien nicht für eine große Zusammenarbeit bekannt sind, liegen die Kontrollen der Grenzübergänge an verschienenen Orten. So hielten wir insgesamt vier Mal und mussten jedes Mal aufs Neue die Reisepässe vorlegen und uns bei der Einreise nach Chile auch einer Gepäckkontrolle unterziehen. Denn aufgrund einer vergangenen Fruchtfliegenplage in Chile, ausgelöst durch importierte Früchte aus Argentinien, ist es auch verboten, seinen Apfel für die Durchreise Chiles im Gepäck zu haben. Na gut.
Zweitens: Der Bus fuhr nicht bis El Calafate durch, in Rio Gallegos an der Atlantikküste mussten wir auf halber Strecke umsteigen. Das Lästige hier war die Wartezeit von gut sechs Stunden, ehe es am Abend dann mit dem zweiten Bus weiterging.
Um Mitternacht erreichten ich schließlich nach 21h Reise El Calafate und nach einem 30 - minütigen Fußmarsch durch die leeren Straßen der Kleinstadt auch mein Hostel.
El Calafate
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stellte ich fest, dass meine Zimmerpartnerinnen drei Mädchen waren, die im selben Bus saßen. Noam, Shir und Amit, kamen alle aus Israel. Beim Frühstück kamen wir das erste Mal ins Gespräch, als sie mich fragten, ob ich mir mit ihnen ein Taxi teilen möchte für die Fahrt zum Gletscher Perito Moreno. „Sorry, today is just a rest day“ war meine erste Antwort.
Als wir eine halbe Stunde später alle zusammen im Taxi saßen, hatten sich meine Pläne wieder einmal geändert. Ich wollte an diesem Tag zwar wirklich mal nichts tun und hatte die Tour zum Gletscher für den nächsten Tag geplant. Andererseits spielte es aber auch keine Rolle ob ich nun heute oder morgen zum Gletscher fahre und so war meine Fahrt gesichert und ich hatte obendrein nette Gesellschaft für den Ausflug. Eine wirklich nette Gesellschaft.
Ich lernte hier nicht nur nette Menschen kennen, sondern auch, wieder einmal, Dinge über ein anderes Land und eine andere Kultur. Was wirklich gewöhnungsbedürftig war, war der Blick auf Shirs Handy, als sie mir in einem WhatsApp-Chat die Namen der drei aufschreiben wollte. Auf hebräisch schreibt man von rechts nach links, daran erinnerte mich zwar und dennoch schien der Anblick des Displays einfach nur spiegelverkehrt.
Der Perito - Moreno - Gletscher ist einer der größten Auslassgletscher des Campo de Hielo Sur, des größten Gletschergebietes der südamerikanischen Anden. Bekannt ist der Gletscher vor allem dadurch, dass seine im Lago Argentino endende Gletscherzunge den südlichen Arm des Sees absperrt und aufstaut. Jene Gletscherzunge war das, was sich vom Aussichtspunkt aus sehen ließ und uns einen wirklich gigantischen Anblick bescherte. Wie eine Mauer aus Eis baute sich der Gletscher auf.
Wir verbrachten rund zwei Stunden am Aussichtspunkt. Ein Großteil der Zeit ging jedoch für ein regelrechtes Fotoshooting drauf. Gruppenfotos, Fotos in allen möglichen Kombinationen unter uns vieren und ganz besonders die Einzelfotos wurden an verschiedenen Plätzen aus allen möglichen Perspektiven, Entfernungen sowie von verschiedenen Personen geschossen. Alleine von Amit existieren geschätzte 170 Millionen Bilder auf verschiedenen Handys.
Auf der Rückfahrt zum Hostel hielt der Tag noch eine Überraschung bereit, die ihn gleichzeitig in ein Abenteuer verwandelte. Mitten im Nirgendwo, in Argentinien ist zwischen Städten und Dörfern oftmals hunderte von Kilometern nichts weiter als Steppe, platzte der rechte Vorderreifen unseres Taxis.
Die Reaktionen der Taxifahrerin ließen vermuten, dass ihr nicht der erste Reifen geplatzt war und so schien sie wenig überrascht und holte kommentar- und emotionslos den Ersatzreifen und Werkzeug aus dem Kofferraum. Die Radmuttern waren jedoch mit ihrem Werkzeug und all unseren Kräften nicht zu lösen und so mussten wir auf einen Helfer hoffen. Pannendienste kommen hier nicht in Frage, da es hier meilenweit kein Netz gibt.
Die erhoffte Hilfe kam. 10 Minuten später hielt ein freundliches Pärchen mit Baby an und der Herr konnte uns mit passendem Werkzeug und technischem Know-How den Reifen problemlos und schnell wechseln. Nicht nur, dass wir so weiterfahren konnten, war großes Glück, sondern auch, dass jeder von uns durch die Hilfe des Mannes seine Pläne einhalten konnte. Während die drei Mädels ihren nächsten Bus kriegen mussten, waren die Taxifahrerin und ich bereits den ganzen Tag heiß auf das nächste WM-Spiel Argentiniens, welches in 30 Minuten beginnen würde.
Nachdem ich mich von Noam, Amit und Shir verabschiedete, sah ich Argentiniens 2-1 Erfolg im Achtelfinale über Australien in einem kleinen Restaurant nahe dem Busterminal und allmählich war unter Argentiniern eine erste echte Hoffnung zu spüren, dass bei dieser Weltmeisterschaft etwas für ihr Heimatland gehen könnte.
Meinen ursprünglich geplanten Rest-Day holte ich dann am nächsten Tag nach.
El Calafate eignete sich als nette Kleinstadt super für einen erholsamen Tagesaufenthalt.
Am Abend traf ich dann noch Eusebio wieder, es war sein Geburtstag, auf den wir in einer kleinen Lokalität abends anstießen.
El Chaltén
Am nächsten Morgen ging es für mich dann weiter in das rund 200 km nördlich von El Calafate gelegene El Chaltén.
El Chaltén wurde erst 1985 gegründet ist mit seinen rund 1700 Einwohnern eher ein kleines Dorf. Ein Dorf inmitten überwältigender Natur.
Es bietet einen direkten Zugang zu den berühmten Bergmassiven Cerro del Torre und Fitz Roy.
Letzteren wollte ich hier unbedingt sehen. Als ich am nächsten Morgen um 6 Uhr aufbrach, verließ ich das Hostelzimmer zeitgleich mit Ariel. Wesentlich weniger überraschend, als dass er auch zum Fitz Roy wollte, war die Tatsache, dass auch er aus Israel kam. Wir schlossen uns zusammen und nahmen die rund 25km lange Wanderung auf uns. Auf unserem Weg trafen wir dann noch auf Arthur, einen gebürtigen Brasilianer aus Lissabon, der uns zu einem Hiking-Trio erweiterte.
Die Wanderung an sich war bereits ein echtes Highlight und die Anstrengung auf dem Weg durch die Berge war kaum zu spüren. Je höher wir kamen, desto besser wurde der Ausblick auf die Landschaft und ich fand nicht zuletzt deswegen an diesem Tag einen besonderen Gefallen am Wandern.
Als wir unser Ziel nach rund drei Stunden erreichten, brauchten wir alle einen Moment. Der Anblick auf den Fitz Roy war wirklich atemberaubend und mehr als eine Belohnung für die 12 1/2 Km, die wir bis hierhin zurücklegten. Wie Türme erstrecken sich die Spitzen der mit Eis verdeckten Berge in den Himmel.
Der Pfad endete an der Laguna de Los Tres, die mit ihrem himmelblauen Wasser gemeinsam mit dem Fitz Roy im Hintergrund ein überwältigendes Bild abgibt.
Es war Arthurs Idee, hier baden zu gehen. Gleichwohl muss ich gestehen, dass ich für dumme Ideen nicht selten zu haben bin. Und so fanden Arthur und ich uns wenig später im rund 8 Grad kalten Wasser der Laguna de Los Tres wieder.
Wenngleich der Aufenthalt im Wasser nichts als Schmerzen bereitete, so muss ich sagen, dass ich mich im Anschluss daran wirklich gut fühlte. Und so hatte die dumme Idee doch einen Wert, der über den Spaßfaktor und den alleinigen Fakt, wir können von uns behaupten, im eiskalten Wasser gebadet zu haben, hinausging.
Auf dem Rückweg mussten wir uns beeilen. Gemeinsam wollten wir uns das Achtelfinalspiel der WM Schweiz gegen Portugal anschauen. Wir wissen es nicht, aber die Tatsache, dass das Spiel bereits in 2h begann, trieb uns auf dem Weg zurück nach El Chaltén vielleicht zu einer Rekordzeit für diese Strecke. Mit etwas Verspätung schafften wir es letztlich in eine Bar.
Am Abend fühlte ich mich dann weniger in Südamerika als in Israel. Bis auf Arthur und mich waren in unserem Hostel ausschließlich Israelis.
Der Grund für den hohen Anteil von ihnen unter den Reisenden in Patagonien zu diesem Zeitpunkt hängt zu einem Großteil mit dem Militärdienst in ihrem Heimatland zusammen. In Israel muss jeder zum Wehrdienst, auch junge Frauen. Das Land hat damit eine der strengsten Wehrpflichtordnungen. Frauen müssen rund zwei Jahre zum Militär gehen, Männer fast drei Jahre. Im November endet die Militärzeit und für einen Großteil der Israelis steht im Anschluss das Reisen auf dem Plan. Die allermeisten von ihnen verfolgen Südamerika als Reiseziel und auch hier deckt sich die Reiseroute unter ihnen sehr. Sie beginnt in Patagonien, deshalb traf ich hier auf so viele von ihnen.
Wir kochten zusammen, in der Küche herrschte heilloses Chaos. Dennoch wussten sie, was sie taten und die Israelis, die ich hier kennenlernte, sind zweifelsfrei ausgezeichnete Köche.
Das Essen an sich war auch ein Erlebnis. Wenn in Deutschland ein gemeinsames Abendessen in der Regel durch eine ruhige Atmosphäre und nette Unterhaltungen geprägt ist, so geht es an einem Tisch mit Isaelis auch beim Abendessen darum, so laut, wie möglich zu sein. Als das dritte Messer vom Tisch fiel, erinnerte ich mich an meine erste Begegnung mit Israelis in dem Büro von Marga Taqsa, dieses Mal jedoch mit aufschlussreichen Gespräche und einem leckerem Essen.