- Ein Alman in Chile

Zeitraum: 28.10.22 - 2.11.22
Für einen Moment fühlte ich mich wie ein Popstar. Geschätzte 30 Taxifahrer warben am Ausgang des Flughafens lautstark um mich. Ich flüchtete auf die nächste Toilette und buchte ein Uber. Durch die Festpreise und die Bezahlung per Kreditkarte in Verbindung mit der Buchung ist Uber in Südamerika eine sichere Möglichkeit, um von A nach B zu gelangen und betrügerischen Taxifahrern aus dem Weg zu gehen.
Dass mein Uber- Fahrer für die Fahrt zum Hostel letztlich ein Taxi fuhr und sich lediglich bei Uber registriert hat und so offensichtlich doppelt Geld verdienen kann, gab einen Vorgeschmack für das Leben, was in Südamerika auf mich warten würde.
Angekommen im Hostel La Casa Roja im Zentrum Santiagos legte ich mich nach dem Check- In ins Bett und wartete, bis Mika in dem Bett über mir wach wurde.
Wir hatten es tatsächlich noch geschafft, uns in Südamerika zu treffen. Während wir uns den letzten Wochen über unsere Reisen gegenseitig auf dem Laufenden hielten, war Mika auf dem Weg aus Ecuador entlang der Pazifikküste in Richtung Süden und würde von Santiago aus seine Reise in Richtung Australien fortsetzen.
Als sein ehemaliger Fußballtrainer wechselten unsere Rollen in unseren beiden gemeinsamen Tagen und Mika gab mir mit all seinen Erfahrungen aus den letzten vier Monaten eine Starthilfe für das Leben in Südamerika.
Es war beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit er mit seinen 19 Jahren mit Straßenhändlern, Club- Türstehern und Taxifahrern kommunizierte, diskutierte und verhandelte. Auf spanisch wohlgemerkt, denn Englisch ist hier ungefähr so verbreitet, wie chinesisch in Deutschland. Und in den ersten Tagen hatte ich das Gefühl, in den letzten Wochen eine falsche Sprache gelernt zu haben. Der chilenische Akzent in Kombination mit einem Sprachtempo, dass der „x2- Geschwindigkeit- Option“ von durchschnittlichen deutschen Whaptsapp- Audios entspricht, machten es unmöglich, mit meinen Basic- Kenntnissen auch nur einen einzigen Satz zu verstehen.
Bei unserem ersten Trip durch die Straßen Santiagos organisierte Mika mir eine chilenische SIM- Karte, einen Steckdosen- Adapter, ein Schloss und unterstützte mich bei meinem ersten Besuch eines Bankautomaten. Es fühlte sich etwas verrückt an, im Anschluss mit 200 000 in der Tasche herumzulaufen und ich musste mich an den Umrechnungskurs von 1€=1000 chilenische Pesos erst noch gewöhnen.
In einer Sache hatte jedoch auch Mika nicht mitgedacht.
Fuck… Fuck. Fuck. Wir hatten die Wäsche vergessen. In der Wäscherei wurden wir noch gewarnt, dass wir sie bis 17:00 Uhr abholen müssen, da der Laden sonst schließt und erst am Mittwoch wieder öffnet. Es war Freitag, 17:30 Uhr. Das fatale an der Sache war, dass Mikas Flug am Sonntag nach Australien gehen würde.
Wir hatten auf unserem Weg zurück zum Hostel uns längst Gedanken gemacht, wie ich die Klamotten am besten nach Australien schicken kann, als die Dame an der Rezeption uns die Wäsche übergab. Der Gedanke, dass die Mitarbeiterin aus der Wäscherei unsere Wäsche persönlich ins Hostel gebracht hat, obwohl wir sie entgegen ihrer Warnung nicht rechtzeitig abgeholt hatten, war beschämend und zugleich ein erstes Zeichen für südamerikanische Freundlichkeit.
Als wir am Abend in einen Irish Pub gehen wollten, kickte der Jetlag rein. Aus meinem angekündigten 10- Minuten- Powernap erwachte ich nach 10h Schlaf völlig verklatscht am Samstagmorgen.

Den Samstag verbrachten Mika und ich mit einer weiteren Tour durch die Straßen und genossen vom Aussichtshügel Cerro Santo Lucia im Zentrum Santiagos einen Blick über die Stadt.
Ich hatte viele Fragen an Mika, was das Leben in Südamerika betrifft. Viele konnte er mir beantworten. Auf andere gibt es vielleicht gar keine Antwort. Wie schaffen es 23 gezählte Brillenläden in einer Straße nebeneinander, sich über Wasser zu halten? Es ist ein seltsames Konzept. Smarter lösten es die Werkstätten einer reinen KFZ- Straße, die sich immerhin auf einzelne Teile spezialisierten. So gab es bspw. einen Shop, der ausschließlich Außenspiegel im Angebot hatte. Mittendrin existiert wiederum ein kleiner Laden, in dem alle Variationen an Ventilatoren zu kaufen waren.
Not macht erfinderisch. Ebenfalls Fragen werfen die kleinen Markt- Straßen auf. Auch hier ist es mir unerklärlich, wie diese Art zu wirtschaften funktioniert, wenn 10 kleine Stände nebeneinander exakt das gleiche verkaufen. Und überhaupt habe ich in diesen überfüllten Straßen in meinen Tagen in Santiago nie jemanden etwas kaufen sehen.
Zweifelsfrei müssen all diese Menschen wahre Überlebenskünstler sein.
Den Pub- Besuch holten wir dann an diesem Abend nach. Nach einem guten Bier und einer Pommes- Platte für 4 Personen können wir sagen, dass sich der Besuch gelohnt hat. Wirklich Irish waren hier jedoch lediglich die Tapeten.
Einige Stunden zuvor entschieden wir uns, später noch weiterzuziehen in die Club- Szene in der Innenstadt. Unser Uber- Fahrer gab uns ein paar Tipps und nach kurzen Überlegungen vor Ort landeten wir in einer Schlange für den Club „Liga Urbana“.
Europäer sind für Südamerikaner eine Goldgrube. Dies bekam ich an diesem Abend zu spüren. Ein Mitarbeiter verließ den Club, drängte sich an der Schlange vorbei und kam auf uns zu. Ich verstand kein Wort. Mika übersetzte.
Was wollt ihr trinken?
„Wow“, dachte ich. Das ist der erste Club, indem man seine Getränke bestellen kann, bevor man überhaupt drin ist. Wir durften dem Herren folgen, an allen geschätzten 30 wartenden Leuten in der Schlange vor uns vorbei, hinein in den Club. Wir bekamen sogar einen eigenen Tisch. In einem rappelvollem chilenischen Club wurden einheimische Club- Gäste für zwei Deutsche verscheucht und wenig später saßen wir mit eisgekühltem Corona- Bier an einem eigenen Tisch am Rande der Tanzfläche. Wie es sich für VIP- Gäste gehört, war natürlich auch für unsere Sicherheit gesorgt. Die Club- Security ließ uns wissen, dass sie uns im Blick hat und wir in Sicherheit sind. Natürlich bekamen Mika und ich all den Service nicht aus Sympathiegründen, sondern einzig und allein aus finanziellem Interesse seitens des Clubs. Als augenscheinliche Touristen erfüllten wir die Kriterien für ein hohes Potenzial, durch uns möglichst viel Geld einnehmen zu können.
Was folgte war eine lange Nacht mit viel Bier und Raggaeton im Kreise einer Gruppe Chilenen sowie zwei neuen Kontaktdaten in meinem Handy. Eine der Nummern war die eines Venezolaners, der an diesem Abend seinen Geburtstag feierte. Der mich einlud für seine Geburtstagsfeier am kommenden Tag, in Südamerika kommt es vor, dass ein Geburtstag über mehrere Tage gefeiert wird, und mich fragte, welche Drogen ich denn am liebsten nehme. Und die andere die eines chilenischen Friseurs, der mir ein Angebot unterbreitete, mir am nächsten Tag meine Haare zu schneiden.
Das völlig verrückte Ende unseres nächtlichen Trips erlebten Mika und ich dann auf dem Rückweg. Aufgrund der hohen Nachfrage waren keine Uber- Fahrer in der Club- Nähe verfügbar und so nahmen wir ein Taxi. Da es uns von der Club- Security empfohlen wurde, ließen wir uns drauf ein. Es wird meine letzte Taxifahrt in Südamerika gewesen sein, soviel steht fest. Per Handy- App ließ der Fahrer ein Taxameter laufen, das allen Anschein und allen Zahlen nach manipuliert wurde. Anders war der Preis, der mit jedem Meter derartig in die Höhe schoss, nicht zu erklären. Wie für den Club, so waren wir natürlich auch für den Taxifahrer eine Goldgrube. Was der Fahrer aber nicht wusste, war, dass Mika über nötige Erfahrungen mit Tricks im Umgang mit Touristen verfügt und mit seinem sicheren Spanisch in der Lage ist, mit ihm zu diskutieren. Mika blieb hartnäckig und wenig später sah der Taxifahrer ein, dass er in seiner Diskussion verloren hatte und wir den mittlerweile auf 40 000 Pesos angestiegenen Preis für ca. 5 Km Fahrt nicht zahlen würden. Die Tatsache, dass er sich auf 25 000 runterhandeln ließ, war dann der indirekte Beweis für sein gefaktes Taxameter.
Doch offensichtlich konnten wir Kriminalität auch. Bei unserer Bezahlung in Bar wies der Fahrer uns darauf hin, dass wir mit Falschgeld bezahlt hatten und zeigte uns den Unterschied unseres gefaketen 10 000 Pesos- Scheins zu einem Original. What the fuck. „Wo hatten wir den her?“, überlegten Mika und ich, nachdem wir den Fahrer mit originalem Geld bezahlten. Es musste aus einem Geldautomaten gekommen sein. Denn seitdem wir Geld abgehoben hatten, bezahlten wir zwar mal in bar, hatten jedoch nirgendwo einen 10 000 Peso- Schein als Wechselgeld erhalten.
Heute, nach Gesprächen mit Chilenen und Erfahrungsberichten anderer Reisender, weiß ich, dass diese Vermutung im höchstem Maße unwahrscheinlich ist. Stattdessen wurde ich darauf hingewiesen, dass Taxifahrer für diese Masche bekannt sind. Vermutlich hatte unser Taxifahrer die Scheine in seiner Hand blitzschnell gewechselt, unser originales gegen Falschgeld ausgetauscht und uns dann erneut mit originalem Geld bezahlen lassen. Der Verdacht saß tief.

Am Sonntag zog Mika weiter in Richtung Australien. Ich hatte mich für diesen Tag mit Benjamin und Gonzalo verabredet, den beiden Chilenen aus Santiago, die ich in Sevilla kennenlernte. Gemeinsam mit ihnen und ihrem Freund Martin zogen wir vom Plaza de Armas durch die Stadt. Als wir ein Restaurant fanden, musste ich lachen. In einer Stadt mit knapp 6 Millionen Einwohnern waren wir in der selben Lokalität gelandet, in der ich wenige Stunden zuvor noch Party gemacht hatte. Eine multifunktionale Lokalität, die von einem wilden Club in der Nacht zu einem netten, gemütlichen Restaurant am Tage wird.
Das wirkliche Highlight des Treffens sollte jedoch noch folgen. Die drei Chilenen luden mich ein zu einem Roadtrip durch Santiago mit dem Ziel eines Aussichtspunktes am Rande der Stadt in den Bergen. Der Weg dorthin führte über einen Highway aus dem Zentrum der Stadt hinein in eine idyllische Gegend und anhand der Häuser auf dem Weg in die Berge war es unverkennbar, dass wir in einem reichen Viertel Santiagos gelandet waren. Nicht zuletzt daran, dass wir an dem Haus des chilenischen Fußballstars Alexis Sanchez vorbeifuhren, dass sie mir stolz präsentierten. Nach einem kleinen Fußmarsch im Anschluss an das Ende der Straße erreichten wir den Gipfel eines Berges.
Die Aussicht über Santiago war atemberaubend. 641 km2 auf einem Blick.
Umgeben von der Küstenkordillere westlich und den Anden östlich der Stadt liegt Santiago in einem Talkessel am Rio Mapocho und es wirkt, als bilden die Berge eine Art Mauer, die der gigantischen Stadt das Bild einer einzigartigen Festung geben.
Beim Zähneputzen lernte ich Dominik kennen, einen Maschinenbaustudenten aus Karlsruhe. Wir brauchten nicht lange, um zu merken, dass wir uns verstehen und hatten als Alleinreisende aus Deutschland, beide mit Santiago als Startort für eine Südamerika- Rundreise ohne detaillierte Pläne zugleich einen ähnlichen Standpunkt. Am Montag machten wir uns auf den Weg zum Cerro San Cristobal, einem zweiten, höheren Hügel im Zentrum der Stadt. Mit seinen 880m Höhe, die wir zu Fuß erklommen, dominiert er das Stadtbild Santiagos.
Am Gipfel des Hügels wimmelte es von Touristen, die größtenteils den Weg mit einer Gondel oder dem Shuttle nutzten. Wir trafen hier auf eine chilenische Familie aus der südlich von Santiago gelegenen Kleinstadt Conceptión und wurden von Kevin und Natalia eingeladen, sie auf unserer Reise durch Chile zu besuchen.
Da Dominik und ich uns auf dem Rückweg verliefen, hatten wir am Ende des Tages insgesamt 18km zu Fuß absolviert. 18km, die es irgendwie wert waren.
Das Bier am Abend hatten wir uns dann regelrecht erarbeitet. Zusammen mit dem Kanadier Brannen und dem Iren Hughie aus unserem Hostel, ließen wir den Tag in einer nächstgelegenen Bar ausklingen.
Auch wenn die Meinungen einheimischer sowie von Reisenden einstimmig sind, dass das Leben in Santiago für südamerikanische Verhältnisse noch am ehesten dem europäischen gleicht, so waren für mich die Unterschiede greifbar.
Mit knapp sechs von insgesamt 19 Mio. Einwohnern spielt sich nahezu das gesamte Leben Chiles in seiner Hauptstadt ab. Somit ist hier auch alles anzufinden und die gesellschaftlichen Unterschiede innerhalb der Stadt nicht zu übersehen. Noch nie hatte ich eine so große Stadt gesehen, noch nie sah ich solch krasse Unterschiede zwischen den Stadtteilen einer Stadt und den Menschen wie in Santiago, der Hauptstadt eines Landes, in dem Korruption und soziale Ungleichheit zur Normalität gehören.
Die Tage in Santiago waren beeindruckend. Zugleich gaben sie einem aber auch ein Bewusstsein, was für ein geregeltes und gerechtes Leben wir, im Verhältnis zu anderen Orten auf der Welt, in Deutschland führen dürfen.